- Kapitel 25 -

Leben und leben lassen

   „Ach komm schon.“

   „Nein.“

   „Bitte. Sonst tu ich’s selbst“

   „Was denkst du, was Kafei dazu sagen wird?“

   „Wenn ich was zu was sagen werde?“, dieser betrat die Rezeption des Gasthofes genau in diesem Moment mit seinem Vater.

   „Ach nichts.“, tat Link die Frage ab.

   „Link will sich von mir noch zwei – “, sprudelte es aus Aril heraus, was Link augenblicklich zu unterbinden versuchte, indem er seine Hand auf ihren Mund schlug, „Ohrlöfer fdefen laffen.“

   „Was?“, gluckste Kafei als Link die Augen zukniff und die Lippen verzog.

   „Vergiss es. Sie macht es ohnehin nicht.“

   „Er had gefagd, dann mafd er ef felbfd.“

   „Wirst du wohl die Klappe halten?“, fauchte Link und drückte seine Hand fester, zog sie aber sofort angeekelt weg, da seine Schwester sie zur Verteidigung abschleckte.

   „Er hat ein Recht, es zu erfahren.“

   „Was ist denn hier für ein Stau in der Tür?“, Esra war ebenfalls zum Abendessen angekommen. „Bei den Giganten, Link!“, gluckste sie. „Du schaust drein, als hätte dich ein Wabbler geküsst!“

   „Fast. Aril hat meine Hand angeschlabbert.“

   „Das hast du auch verdient.“, sagte diese entschieden, mit einer Hand in der Hüfte.

   „Wenn’s weiter nichts ist, würdet ihr mich durchlassen? Ich sterbe vor Hunger.“, forderte Esra und Dotour machte leicht schnaubend Platz. „Kafei?“

   „Was? Oh – ja.“, schrak dieser auf. „Du hast ja wirklich wieder zugenommen.“

   „Würde dir auch nicht schaden.“

   „Ich bevorzuge es, auch durch schmale Türen zu gehen. Schließlich ist es wissenschaftlich erwiesen, dass Muskelmasse wesentlich weniger Platz benötigt, als Fett.“, meinte Kafei.

   „Und sieht auch viel besser aus.“, konnte Link es sich bei Dotour’s Blick nicht verkneifen. „Ich meine, es gibt auch schöne dicke Leute. Aber wenn bei – jedem Schritt – alles schwabbelt – “

   „Das nennt man geballte Frauenkraft mit Schlagschutz.“, prahlte Esra und stolzierte in ihrem engen, gelb gepunkteten, blauen Kleid in Richtung Küche, den dicken Pelzmantel inzwischen über den Arm gelegt.

   „Gebt ihr Tentakel, werft sie in den Ozean und sie geht als Oktalus durch.“, murmelte Aril, woraufhin Dotour leicht lächelnd die Augen schloss. „Also, Kafei? Was hältst du von Link’s Wunsch? Ich meine, du liebst ihn doch mindestens so sehr wie ich Schmuck und mein altes Fernrohr. Kannst du zulassen, dass er sich so verunstaltet, wie ich es getan hab?“

   „Mindestens. Und deshalb ist es mir egal, wie sehr er seinen Körper verunstaltet. Wenn er schon keine unfreiwilligen Narben behält, lass ihm wenigstens die freiwilligen. In diesem Zustand glaubt ihm ohnehin niemand, dass er hart genug ist, konsequent die Welt zu retten.“

   „Du denkst also auch, ich sehe wie ein Weichei aus?“, raunte Link.

   „Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, ich liebe dich so wie du bist. Und wenn das bedeutet, dass du zwanzig Löcher in den Ohren und eines in der Nase hast. Ach ja – und eines im Nabel. Aber davon würde ich dir abraten. Der ist noch empfindlicher.“

   „Verdammt!“, fauchte Aril. „Schon schlimm genug, dass du nachgezählt hast! Aber woher weißt du von dem da unten?“, sie deutete auf ihren Bauch, Kafei aber lächelte neckisch.

   „Ein wunderschönes, zartblaues Steinchen, in Silber gefasst.“

   „Das will ich sehen!“, kam es von Link.

   „Woher weißt du davon?“, wiederholte Aril energischer.

   „Ja. Gibt es eigentlich ein Material, durch das du nicht sehen kannst?“, fragte Link.

   „Distanz.“, überlegte Kafei. „Wenn etwas zu weit weg ist – oder durch einen Zauber abgeschirmt.“

   „Kann mir jemand so einen Zauber beibringen?“, jammerte Aril.

   „Wie sieht mein Gehirn aus.“, wollte Link wissen, doch Kafei drehte nur die Augen über. „So schlimm?“

   „Herrschaftszeiten – nein! Esra hat Recht! Bei euch bekommt man ja wirklich Lust, irgendetwas bei lebendigem Leib zu verspeisen! Und beim männlichen Teil von euch macht mich das auch noch an.“, seufzte Kafei. „Willst du das wirklich, Link?“

   „Wissen, wie mein Gehirn aussieht?“, gluckste er und erntete einen gelangweilten Blick.

   „Du weißt, was ich meine.“

   „Keine Sorge. Mir ist das Bedürfnis nach vier Ohrlöchern vergangen.“

   „Auch gut. Ich würde mir ja ebenfalls welche stechen, wenn ich dadurch nicht noch mehr auffallen würde.“

   „Noch mehr auffallen?“, lachte Aril ungläubig. „Du? Geht das denn?“

   „Vier Ohrlöcher wären nicht mehr ganz so häufig wie zwei. Das würde das Tarnen erheblich erschweren.“

   „Weil in deinem Fall Ohrlöcher ja die größte Hürde in Sachen Tarnung sind.“

   „Urteile nicht über Dinge, von denen du keine Ahnung hast.“, meldete sich Dotour erstmals zu Wort. „Kafei? Sei bitte so lieb und bring mir eine Hühnersuppe, Knoblauchbrot und einen kühlen Apfel aufs Schlafzimmer. Mir ist eingefallen, dass ich etwas sehr wichtiges tun muss.“

   „I- in Ordnung – “, stutzte sein Sohn und sah ihm nur hinterher, bis er um die Ecke verschwunden war.

   „Was war das jetzt?“, gluckste Link, ebenfalls zur Tür hinaus, die noch immer offen stand.

   „Keine Ahnung. Aber ich hab eine starke Vermutung, dass ich mich mit der Suppe beeilen sollte.“

 

   Mit nur drei Schritten war er am Tresen und überwand diesen mit einem beschwingten Satz in Richtung Küche. Beinahe hätte er der neuen Köchin die Tür ins Gesicht geschlagen. Sich hastig entschuldigend, kramte er nach zwei verschließbaren Schüsseln und einem Teller, füllte die Schüsseln mit frisch gemachter Hühnersuppe, schnappte sich etwas vom noch warmen Knoblauchbrot, den kühlsten Apfel den er auf die Schnelle fand, sowie zwei Löffel und teleportierte sich in Anju’s Büro. Schließlich wollte er seinen Vater nicht wirklich erschrecken. Die Schüsseln und den Teller mit dem Brot auf dem linken Arm, klopfte er mit der rechten Faust sachte aber codiert an die Tür und wartete auf ein Zeichen. Als Dotour ihn herein gebeten hatte, schlüpfte Kafei geschwind durch die Tür und sperrte hinter sich mit einem Fingerschnippen ab, sich einen Eindruck der Lage verschaffend.

   Sein Vater stand nur vor dem lodernden Kaminfeuer, die Haare zusammengebunden und hielt etwas langes, dünnes in die Flammen. Seine linke Hand umklammerte ein altes, kleines Leinentuch. Kafei stellte das Geschirr erst auf den Nachttisch und ging dann zu ihm, neugierig beobachtend. Das Objekt in seiner rechten Hand war eine sehr spitze Silbernadel. Verstehend, was es zu bedeuten hatte, ging er zurück zum Teller, nahm den Apfel und zog einen Dolch aus seinem Stiefel, um den Apfel in Spalten zu schneiden.

 

   „Sie sind zugewachsen, weißt du?“, natürlich wusste Kafei das.

   „Willst du das wirklich?

   „Ich muss. Kannst trotzdem du es tun? Du hast ein besseres Gefühl in den Fingern. Verständlicherweise nur, wenn du willst.“

   „Dir ist schon klar, dass Esra dann –

   „Sie weiß es ohnehin.“

 

   Dotour übergab seinem Sohn die Dinge in seinen Händen und setzte sich gefasst aufs Bett, von wo aus er die unterste Lade seines Nachtkästchens öffnete und ein kleines Säckchen unter seinem geheimen Photoalbum hervorholte. Vorsichtig öffnete er es und zog die beiden aufwändig gearbeiteten Ringe aus Silber heraus. Doch etwas zittrig zog er zuerst bei einem den Dorn aus dem Rohrstück am Ende, dann beim anderen und legte alles neben sich. Inzwischen glühte die Silbernadel bereits. Kafei ging damit zu ihm und kniete sich vor ihm auf den Boden. Dotour nickte nur und griff nach zwei Apfelspalten. Kafei nahm dessen linkes Ohrläppchen vorsichtig mit dem Tuch zwischen die Fingerspitzen. Er ziehlte kurz auf die kleine Narbe und durchstach sie mit dem noch heißen Metallspitz. Die Zähne und Augen zusammengepresst, schluckte Dotour den kurzen Schmerz ohne einen Laut von sich zu geben. Kafei zog die Nadel schnell wieder heraus, damit keine Brandlblasen entstanden. Sein Vater hielt die beiden Fruchtstücke, je eines vorne und hinten, tief durchatmend an die nicht einmal blutende Wunde.

   Diese Prozedur wiederholten sie bei Dotour’s rechtem Ohr. Fertig, ließ Dotour, seine linke Hand sinken und Kafei betrachtete das frische Loch. Das Ohrläppchen war leicht rot, blutete aber nicht. Er war also schnell genug gewesen. Nun nahm er einen der Ohrringe, doch Dotour gab ihm den anderen. Aufgrund der Genauigkeit des Erinnerungsvermögens seines Vaters schnaubend, nahm er diesen anderen Ring, bohrte den Dorn leicht in eine noch kühle Stelle einer Apfelspalte, steckte ihn dann durch das Loch und schloss den Ring vorsichtig. Nun wartete er eine Weile, tat das auch mit dem anderen Ring und ließ sich schlussendlich auf seine Füße hinabsacken.

 

   „Sieh mich nicht so an, Kafei. Das –

   „War nötig.“, sein Ausdruck war leer aber dennoch überzeugt von der Richtigkeit der Aktion. „Du weiß – mindestens eine Woche kein kuscheln, schon gar kein Sex und halt dich beim Sport zurück.“

   „Kafei. Denkst du wirklich, –

   „Ich sag’s dir nur. Ach und komm bloß nicht auf die Idee, dich irgendwo zu verletzen. Selbst wenn –

   „Ja, ja. Keine Tränke, keine Feen. Ich leide gerne.“, schmunzelte Dotour.

   „Willst du lieber am Tisch oder im Bett essen?

   „Der Tisch wäre mir ehrlich gesagt lieber.“

   „Gut.“

 

   Kafei aß die Apfelspalten unter Kichern seines Vaters, stand auf, ließ die anderen Dinge unter dem Photoalbum verschwinden, nahm das Essen auf den Arm, brachte es zum Tisch und zog seinem Vater einen Stuhl nach hinten. Wartend, bis dieser vor dem Stuhl stand, starrte er gedankenverloren ins Feuer. Er rückte ihm den Stuhl zurecht und setzte sich ihm gegenüber.

 

   „Chjira.“, Kafei nickte nur daraufhin. „Mna aishajar, athaimamna.“

   „Mna aluk aishajar, Athani.“

 

   Schweigend, deckten sie die Suppen ab und begannen zu essen, Kafei bewusst den Löffel in der linken Hand. Mit der anderen griff er nach der freien Hand seines Vaters und hielt sie am Tisch liegend fest.

 

   „Die Gerudo haben ihn gefasst.“, sagte Kafei, nach seinem dritten Stück Brot.

   „Wen?

   „Die Bestie.“, es dauerte einige Sekunden bis Dotour verstand und auch begriff.

   „Doch nicht etwa – den, der vor über zwanzig Jahren – all die Kinder verschleppt und – und missbraucht hat?

   „Und Ilethi ermordet hat.“

   „Ermordet? Er hat das arme Mädchen –

   „Ausgeweidet, ja.“, bei der Erinnerung daran wurde ihm übel, aber es stieg auch eine derartige Wut in Kafei auf, dass seine Augen beinahe zu glühen begannen. „Die Beschreibung stimmt überein. Sie haben gerade noch verhindert, dass er einen weiteren Jungen vergewaltigt hat. Er kommt morgen an.“

   „Lässt du ihn öffentlich hinrichten?

   „Ich habe lange darüber nachgedacht. Einerseits würde das für ihn die Krone seines Werkes darstellen, aber ich könnte einfach nicht damit leben, wenn er ohne Beispiel für die Gesellschaft unschädlich gemacht wird. Ich will ihm die Lektion seines Lebens erteilen. Objektiv gesehen, habe ich als König keine Wahl. Wenn ich ihn nicht hinrichten lasse –

   „Ich verstehe. Aber das hat dich noch nie gekümmert.

   „Nein.“

   „Also wird er so oder so hängen.“

   „Sollte er das deiner Meinung nicht?“, Kafei sah seinem Vater tief in die Augen. „Die gütige Gnade des neuen Königs? Ich denke, es gibt bessere Leute, an denen ich so etwas demonstrieren kann.“

   „Da hast du Recht.“, seufzte Dotour zu seiner Suppenschale, dennoch stockte ihm bei der nächsten Aussage augenblicklich der Atem und sein Blick schnellte wieder auf Kafei.

   „Und nein, er wird nicht hängen.“

 

   Für eine Weile sahen sie einander nur an. Eine eigentlich kurze Weile, die sich allerdings durch ihr Schweigen, das höllische Knistern der Flammen und das ohrenbetäubende Tacken der Wanduhr in der Stille bis aufs zerreißen spannte.

 

   „Anju will dieses Monster brennen sehen, und diesen Wunsch gewähre ich ihr so gerne wie ich sie ein weiteres Mal heiraten würde. Oder zumindest hoffe ich, dass ich mir dabei nicht selbst im Weg stehe.

 

 

~o~0~O~0~o~

 

 

   Fasziniert beobachtete Link jede noch so kleine Bewegung von Anju. Es war ungewöhnlich, dass sie Wein trank. Sie selbst war sich zuerst auch nicht sicher gewesen, aber es gab einen Anlass. Bis auf die beiden, war der Speisesaal leer. Taya hatte ihn als letzte fünf Minuten zuvor verlassen. Die Kerze am Tisch war schon fast heruntergebrannt. Auch die anderen Lichter hatte Anju bereits gelöscht. Es gab also nur noch das Kaminfeuer, die Kerze, eine Tasse Tee, ein halb leeres Glas Wein und die beiden.

 

   „Was ist los?“, brach Anju die nachdenkliche Ruhe.

   „Das könnte ich dich fragen. Worauf trinkst du?“

   „Wie kommst du zur Vermutung, ich würde auf etwas trinken?“

   „Du trinkst nie Wein. Warum also heute?“

   „Es gibt etwas zu feiern.“

   „Oh ja. Genau so siehst du aus.“, spottete Link.

   „Er wurde gefasst.“

   „Wer denn?“

   „Die Bestie.“

   „Doch nicht etwa dieser Kinderschänder? Ja – ich hab von ihm gehört – war das nicht schon vor meiner Geburt?“

   „Es ist über zwanzig Jahre her. Man hat ihn nie erwischt. Hat sich anscheinend in der Wüste niedergelassen. Sich die Nomaden vorgenommen. Deshalb hat man nichts mehr von ihm gehört, vermute ich. Man hört selten, was in der Wüste geschieht. Jetzt ist er einer Gerudo-Patrouille in die Hände gefallen. Angeblich haben sie ihn dabei erwischt, wie er einen hylianischen Jungen vor den Augen seiner in der Wüste lebenden Familie vergewaltigen wollte. Es war eine Magierin nötig, um ihn zu überwältigen. Zum Glück war eine in der Gruppe. Er wird morgen an Ikana ausgeliefert.“

   „Sie bringen ihn hier her?“, Link’s Augen verengten sich misstrauisch. „Wieso?“

   „Er war ein angesehener Suro-Meister, bis sie ihm auf die Schliche gekommen sind. Igos selbst hat ihn dabei ertappt, wie – “, sie atmete tief durch und kräuselte die Lippen, „Ilethi war eine gute Freundin von Kafei und mir. Sie war sogar noch jünger als wir damals. Es war Nacht. Igos hat sie mit einer Fackel verbrannt, bevor ich sie sehen konnte. Zum Glück. Aber nicht für Kafei. Er hat versucht, sie zu retten, während Igos gegen dieses Monster gekämpft hat. Ich habe nur den Kampf aus der Ferne beobachtet. Es war schrecklich. Das war das einzige Mal, dass ich gesehen habe, welcher Magie Igos mächtig war. Dennoch ist er ihm entwischt. Ich weiß nur noch, dass Kafei von oben bis unten voll mit Blut war. Er hat eine Woche lang kein Wort gesprochen. Nicht, dass er verstört war – er war wütend. Ist jeden Tag alleine in einen der Trainingsräume verschwunden und hat auf Sandsäcke eingeschlagen, bis alle leer waren – und seine Hände blutig. Fragst du dich noch immer, warum wir zugelassen haben, dass unsere Tochter bereits im Alter von sieben Jahren gelernt hat, wie man einen ausgewachsenen Dodongo mit nur zwei Schwerthieben töten kann?“, das schwache Kerzenlicht und der Feuerschein von hinten ließen ihren leeren Gesichtsausdruck unheimlich erscheinen.

   „Da brauch ich ja länger.“, hauchte Link nur, gar nicht in der Lage, sich zu allem vor dieser rhetorischen Frage äußern zu können. „Das waren die Plakate, die er in Auftrag gegeben hat, oder? Ich habe ihn nur mit dem Drucker reden sehen. Gehört hab ich nicht, was sie besprochen haben. Wann ist die Hinrichtung?“

   „Gleich zu Beginn der nächsten Woche, wenn der erste Sonnenstrahl den Baum vor dem Schloss berührt. Kafei hat gesagt, er will nicht dabei sein.“

   „Kann ich verstehen.“, meinte Link leicht nickend und lehnte sich zurück. „Ich denke, wenn ich er wäre, würde ich den mit einem Holzlöffel tot prügeln.“

 

 

~o~0~O~0~o~

 

 

   Kein Lüftchen wehte. Die Morgenluft stand still und eisig in den leeren Gassen und Plätzen von Unruhstadt. Sanfter Nebel lag in der Luft, wie ein Seidenschleier vor dem dumpfen, leicht hellblauen Himmel. Einige Sonnenstrahlen brachen sich in den kalten Partikeln des Nebels. Der frische Schnee der Nacht war fast unberührt. Weiter entfernt hatte eine Katze ihre Spur gezogen. Link streckte sich durch und atmete die frische Luft in vollen Zügen ein. Dann sperrte er die Tür zum Rathaus wieder ab und zog seinen grauen Umhang enger.

   Noch bevor er den ersten Schritt in die weiße Pracht setzen konnte, bemerkte er eine weitere Spur. Dotour war also schon zu seinen morgendlichen Runden aufgebrochen. Als er aber der Spur folgen wollte, in der Hoffnung, ihn irgendwann vor dem Osttor abzufangen, stach ihm ein Plakat entgegen. Es hing an der Rückseite der Milchbar. Er sah sich um und fand auch eines am Durchgang zum Nordviertel und gleich direkt neben der Tür des Rathauses. Erst das ließ ihn erkennen, dass nicht nur eine Spur gezogen worden war. Der Schnee war alles andere als unberührt.

   Er drehte sich erneut um und las. Die Plakate waren doch tatsächlich schon in der Nacht gedruckt worden. Link schnaubte. Noch nie hatte er erlebt, dass eine Hinrichtung, im wahrsten Sinne des Wortes, so an die große Glocke gehängt wurde. Selbst auf der Glocke am Dach der Milchbar, die einst die Terrasse des Gasthofs geziert hatte, klebte ein Plakat. Kopfschüttelnd ging Link hinunter auf den Ostplatz. Neben jeder Tür hing eines der Plakate.

   Im Vorbeigehen grüßte er den Wachmann, der eine dampfende Tasse Corabohnenwasser umklammerte. Link konnte das Getränk in der neutralen Luft deutlich riechen. Rein um die leere Stadt zu genießen, ging er den Umweg über das Südviertel. Normalerweise war er zu faul für morgendliche Ausflüge, wenn er sie nicht gerade machen musste. Aber nachdem Anju’s Botschaft ihm eine unruhige Nacht beschert hatte, musste er einfach raus und einen klaren Kopf bekommen, wenn es auch angesichts der vielen Plakate schwierig werden durfte.

   Als er den Südplatz betrat, verschwand gerade der Postbote auf seiner ersten Runde hinter dem Uhrturm. Irgendwie war Link froh, ihn in Stiefeln, einer lange Hose und dem roten Pullover seiner Winteruniform zu sehen. Zwar sah er darin mit seiner üblichen Laufart noch seltsamer aus als bei angenehmeren Temperaturen, aber zumindest wusste Link, dass der Mann doch etwas auf seine Gesundheit achtete. Begleitet von weiteren Plakaten, setzte Link seinen Spaziergang fort in Richtung West-Unruhstadt. Auch dort brannten die Fackeln noch, um etwas Wärme zu spenden. Eiskristalle schmückten die verwelkten Pflanzen in den Trögen und das Strohdach über der halben Gasse. Endlich sah er ihn.

   Mit einer großen Umhängetasche voll Plakaten, einer Dose Leim und einem Pinsel bewaffnet, stand er neben der geschlossenen Bank und schmierte etwas von dem Klebstoff an die Wand. Sein dunkelblauer Wintermantel mit violett gefärbtem Pelzkragen und der rote Wollschal passten perfekt zu seinem Kopf. Die langen, violett schimmernden blauen Haare hatte er mit fünf Holznadeln zu einem Knoten hochgesteckt. Völlig in Gedanken klatschte er das Papier an die Wand und erschrak leicht, als Link ihn ansprach.

 

   „Guten Morgen.“

   „Was? Oh. Ja. Guten Morgen.“

   „Schon fertig mit dem Training?“

   „Das ist heute mein Training.“, er nickte zur Tasche hinunter und ging weiter, und Link heftete sich an seine Fersen. „Kafei hat mir deutlich angewiesen, mich zurück zu halten.“

   „Damit Esra sich nicht so dumm vorkommt?“

   „Wohl eher damit sie sich dumm vorkommt.“, schmunzelte Dotour und deutete auf seine Ohrringe. „Wollen wir nicht so offensichtlich gehässig sein.“

   „Hast du etwa – hab ich daran Schuld?“, staunte Link.

   „Nein. Es war schon lange fällig. Ich hatte nur bis jetzt nicht den Mut dazu, es tatsächlich zu tun.“

   „Hast du sie etwa selbst wieder aufgestochen?“

   „Nein. So dumm bin ich nun auch wieder nicht. Kafei.“

   „Versteht er es?“

   „Wohl noch mehr als ich, denke ich.“, seufzte Dotour und blieb, mit Blick auf eine in ein Wolltuch gewickelte Milchkanne vor der Tür der Kampfschule, stehen. „Oh. Sieht so aus, als wäre Cremia auch schon lange munter.“

 

   In diesem Moment wurde die Tür geöffnet und eine verschlafene Ydin bückte sich nach der Kanne. Nur vage nahm sie wahr, dass sie beobachtet wurde. Neugierig richtete sie sich mitsamt der Kanne auf, musste aber zwei Mal hinsehen, um Dotour zu erkennen.

 

   „Was ist denn nun schon wieder?“, war ihr benommener Morgengruß, als sie die Tasche und die Leimdose identifiziert hatte.

   „Die Bestie wurde gefasst.“, Begeisterung lag jedoch nicht in seinen Worten.

   „Ist nicht dein Ernst.“

   „Doch.“

   „Dem Himmel sei Dank.“, seufzte sie niedergeschlagen, stapfte auf ihn zu und umarmte ihn dank Milch und Leim etwas umständlich.

   „Nein. Den Gerudo. Und pass bitte auf.“

   „Oh – sicher. Sonst kleben wir noch zusammen.“, lächelte sie müde.

   „Nein. Das nicht. Aber – “

   „Meine Güte – wann hast du dir denn die wieder stechen lassen?“

   „Gestern Abend. Kafei war so nett, mir zu helfen.“

   „Was der Junge nicht alles macht. Sag, wann ist denn die Hinrichtung? Ich muss unbedingt die faul gewordenen Äpfel sinnvoll loswerden.“

   „Was?“, raunte Link. „Ich meine – ja – es ist schrecklich, was der Kerl getan hat – aber warum betrachtet ihr alle Hinrichtungen als so selbstverständlich wie den Sonnenaufgang nach der Nacht?“

   „Vielleicht, weil wir in einer Gesellschaft aufgewachsen sind, in der es üblich war, Schwerverbrecher; angesichts des Risikos einer Wiederholungstat; nicht einzusperren und nach einiger Zeit wieder frei lassen zu wollen?“, meinte Dotour. „Und dieser Mann hat deutlich bewiesen, dass er nicht damit aufhören wird. Was ist also falsch daran, im Namen verschonter, zukünftiger Opfer und in Gedenken derer, denen er Leid zugefügt hat, freudig seinen Tod zu erwarten? Ja, jeder Richter und Henker ist auch ein Täter. Doch muss man unterscheiden – “

   „Ob ein Unschuldiger oder Schuldiger stirbt.“, nickte Link verstehend.

   „Genau. Und Ydin – die Hinrichtung ist am Beginn nächster Woche, beim ersten Sonnenstrahl vor dem Schloss.“

   „Also wie immer. Danke. Ich geh dann mal hinein. Sonst verpasse ich die Hinrichtung noch, weil ich krank werde.“

   „Sie hat Angst, sich zu erkälten, weil sie ihre faul gewordenen Äpfel sinnvoll loswerden muss.“, murmelte Link, Dotour dabei zusehend, wie er das nächste Plakat aufklebte. „Bei einer Hinrich– “, plötzlich ging die Tür erneut auf und Ydin huschte zu Dotour’s Tasche.

   „Das glaubt mir Frano nie!“, grinste sie, als sie eines der Plakate herauszog und trippelte wieder zurück ins Haus.

 

   Sie hörten sie noch die innere Tür öffnen und schließen, dann war Stille. Dotour stand einfach da und starrte zum Uhrturm hinab, von Link beobachtet. Langsam wurde die Stille immer lauter. Das Knistern der Fackeln. Die leichten Bewegungen des schweigenden Wachmanns, damit ihm nicht ganz so kalt war. Dotour’s ruhiger Atem. Link’s Atem. Link hörte sogar sein eigenes Herz schlagen. Irgendwo rutschte etwas Schnee von einem Dach. Anderswo rieselte er nur. Eine Krähe rief einsam außerhalb der Stadtmauern. Ein leichter Windhauch. Dann stapfte Dotour weiter in Richtung Nordstadt, als hätte er nur auf diesen Luftzug gewartet. Schweigender als ein Wachmann es je sein konnte, folgte Link ihm.

   Sie blieben noch einmal hinter dem Uhrturm stehen, drehten eine Runde durchs Nordviertel. Dort fanden sich nur drei geeignete Plätze für Plakate. Für Link waren diese schon zu viel. Allmählich glaubte Link, dass Dotour das nur tat, um einfach irgendetwas zu tun. Zuletzt ging er zum Baum. Er versuchte mehrmals, sich dazu zu bringen, den Pinsel anzusetzen. Dann holte er ein Blatt aus der Tasche, hielt es an den Stamm. Mit Blick auf die Rutsche, ließ er es wieder sinken. Dieses Ritual wiederholte er eine ganze Weile lang, wobei er jedes Mal ein Plakat zu Boden gleiten ließ. Schlussendlich schleuderte er die Leimdose mit vollstmöglicher Wucht gegen die Stadtmauer und sackte mit einem lauten, wütenden Aufschrei gegen den Baum. Der Torwächter wollte schon zu ihm stürmen, doch Link hielt ihn mit einer schlichten Geste zurück.

   Nur zögerlich begann Link sich ihm zu nähern. Den alten Mann so zu sehen, stimmte ihn traurig. Tränende Augen blickten verzweifelt zurück. Er kniete sich langsam zu ihm, nahm ihn tröstend in die Arme, küsste ihn auf die linke Wange und schmiegte seinen Kopf an Dotour’s, bedacht, dessen Ohr nicht zu berühren.

 

   „Kafei redet nicht.“, flüsterte Link.

   „N-nein. Er r-redet n-nie. Über s-so etwas r-redet er nicht. D-das kann er nnicht. Der gleiche Idiot w-wie ich. S-sagt anderen, sie sollen r-reden, aber selbst sch-schluckt er – alles in s-sich hinein.“

 

 

~o~0~O~0~o~

 

 

   Es war kein Schnee mehr zu sehen, so vollgestopft war das Residenzdorf. Sogar den Schnee auf den Dächern hatten sie heruntergeschoben, um dort oben Platz zu finden. Auch im Baum hingen Leute, nur um beim Spektakel des Jahrhunderts dabei sein zu können. Vor dem Schlosstor war ein Podium aufgestellt worden, auf dem ein Scheiterhaufen thronte. Aus allen Ecken von Termina und Ikana waren sie gekommen, eng in ihre Winterumhänge gehüllt. Alle Völker waren anwesend. Unaare, Nabooru’s Nachfolgerin, flankiert von zwei Kriegerinnen, stand in einem Pelzmantel neben dem mit Strohbündeln umlegten Pfosten und ließ ihre wachsamen, orange-gelben Augen über die Menge gleiten.

   Trotz des Andrangs kroch die eisige Kälte in jede Ritze. Um nicht ganz so zu frieren, hatte Link seine volle Kampfmontur unter seinem Winterumhang angezogen. Da es leicht schneite, trug er auch seine grüne Mütze. Langsam bahnte er sich seinen Weg zum Podium, vorbei an bekannten und unbekannten Gesichtern. Unter ihnen, zu viele Kinder auf den Armen eines ihrer Verwandten. Ohne es beabsichtigt zu haben, fand sich Link neben Ydin in der ersten Reihe wieder. Auf einem Arm hielt sie einen alten Weidenkorb mit angefaulten Äpfeln. Zur Begrüßung schenkte sie ihm ein zaghaftes Lächeln, sichtlich frierend, in den Armen ihres Mannes. Franin und die Schwestern von der Ranch standen nun auf seiner anderen Seite. Er war froh, keine Spur von Anju und ihren Kindern zu sehen.

   Plötzlich wurde eines der beiden Tore leicht geöffnet. Augenblicklich herrschte Totenstille. Das Rasseln von Ketten, die durch den Schnee geschleift wurden, war zu hören. Schritte. Der Schein einer Fackel wanderte am Tor entlang, hinter dem Podium herum, erklomm die Stufen.

   In einem purpurnen Umhang, ein schleppendes, schwarzes Kleid mit roter Borte bestickt tragend, ihr königliches Diadem auf dem blutroten Haupt, die Fackel in der rechten Hand, schritt Anju mit furchteinflößender Kälte in den schwarz gerahmten, meerblauen Augen auf die Hinrichtungsstätte. Sie so zu sehen, raubte Link schlichtweg den Atem. Er kannte inzwischen viele ihrer Gesichter. Doch das Bild einer skrupellosen, dominanten Königin war bis zu diesem Zeitpunkt nicht dabei gewesen. Auch wenn sie ihre Angewohnheit, sich ständig für alles zu entschuldigen, beinahe abgelegt hatte, so war es doch seltsam, ja gar bedenklich, zu wissen, dass dies ein und die selbe Frau war.

   Hinter ihr zerrten zwei maskierte Suro, in schwarzer Uniform mit ebenfalls blutrotem Auge auf der Brust, so rot wie die eigenen, eine schlaffe Gestalt in einem dreckigen Leinenhemd und einer nicht schöneren Hose. Seine bloßen Hände und Füße wurden mit schweren Stahlketten zusammengehalten, die schulterlangen, dunkelgrünen Haare hingen schlaff und fettig von seinem ungeschützten Kopf. Der Irrsinn stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er hatte frische Verletzungen im Gesicht, als auch an Händen und Füßen und schien in den letzten Tagen gelitten zu haben. Link erinnerte sich an die Folter, die Anju erwähnt hatte.

   Die beiden Wächter stiegen auf den Scheiterhaufen und zogen Die Bestie hinterher. Oben, ketteten sie ihn an den Pfosten. Während die Suro vom Haufen herab sprangen, konnte Link sehen, wie Dotour auf die Stufen kroch. Offensichtlich wollte er nicht gesehen werden, aber im Notfall einschreiten können. Auch die beiden Suro stellten sich links und rechts neben den Haufen. Anju ergriff das erste Wort, an Unaare, in Hylianisch, damit alle sie verstanden.

 

   „Seid gegrüßt, Unaare, Führerin der Gerudo Hyrules.“

   „Auch ich grüße Euch, Königin Anju-Anila von Ikana.“, sie machte eine leichte Verbeugung.

   „Da wir alle wissen, wozu wir uns hier versammelt haben, möchte ich uns in dieser Kälte lange Worte ersparen. Deshalb frage ich Euch, ist dies der Mann, der aufgegriffen wurde, um ein Verbrechen zu verhindern?“

   „Ja.“

   „Gut. Vorerst habe ich keine weiteren Fragen an Euch.“, sie drehte sich zur Menge. „Volk von Ikana, Volk von Termina, die ihr einst Eins wart und euch nun hier wieder zusammengefunden habt. Dieser Mann hier,“, sie deutete mit der Fackel auf ihn, „Geboren unter dem Namen Hethalor Manichiju Elthésitur, steht heute zur Anklage, der zu sein, der allerorts nur als `Die Bestie´ bekannt ist. Die Bestie hat in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren in siebzehn bekannten Fällen und vermutlich der doppelten Anzahl an unbekannten Fällen, Kinder im Alter von unter zehn Jahren auf grausame Art und Weise sexuell und anderweitig körperlich missbraucht. Zudem hat er in Gegenwart von Zeugen, unter welchen mein Mann, der König von Ikana und Bürgermeister von Termina und sein Vorgänger König Igos der Zweite von Ikana waren, die kleine Ilethi Yuylero brutalst ermordet.“

 

   Noch erdrückendere Stille legte sich über die Masse. Kaum jemand hatte gewusst, dass Kafei dabei gewesen war. Viele begannen zu rechnen. Link konnte sie leise tuscheln hören, entsetzt darüber, wie alt Kafei damals gewesen war, als er diese Gräueltat mit eigenen Augen gesehen hatte.

 

   „Ich frage euch, mein Volk, ist dies der Mann, dem diese Taten zuzuschreiben sind?“, die Zustimmung toste durch die Menge. „Könnt ihr dies mit bestem Wissen und Gewissen sagen?“, abermals Zustimmung. „Also frage ich auch dich, Hethalor Manichiju Elthésitur, Sohn von Isari und Hárun Elthésitur, bist du, in Anbetracht meiner Worte, jener Mann, auch bekannt als Die Bestie? Bekennst du dich schuldig, auch nur in einer der genannten Taten?“

   „Schuldig? Schuldig, ein Mann mit Bedürfnissen zu sein?“, lachte er, der Wahnsinn in seiner durch die Kälte zitternden Stimme gut hörbar.

   „Kein Mann ist zu so etwas fähig, du Monster!“, rief eine Frau von irgendwo her und schrie vor Freude auf, als Ydin einen ihrer Äpfel nach oben warf, womit sie ihn an der Schulter traf.

   „Das ist alles was du kannst, Halbblut?“, gackerte er und Ydin holte erneut aus, doch Link stoppte ihren Arm.

   „So redest du nicht mit meiner Frau, wertloses Dreckvieh!“, brüllte Frano und warf an ihrer statt, die Menge johlend auf seiner Seite.

   „Kennt ihr euch etwa persönlich?“, fragte Link entgeistert. „Und was meint er mit Halbblut?“, Ydin antwortete nicht, sondern starrte nur wutentbrannt zum Scheiterhaufen hoch.

   „Ich wiederhole,“, Anju beruhigte die Meute mit einer Handbewegung, „Bekennst du dich schuldig?“

   „Ich bitte dich! Du verbrennst mich doch auch wenn ich nichts getan habe! Gib’s doch zu! Die Leute wollen heute jemanden brennen sehen! Und wenn schon! Dann bin ich es!“, die Spucke sprühte regelrecht aus seinem Mund, mit jedem Wort, das seine Lippen verließ. „Was habe ich zu verlieren? Zünde mich an, du hylianische Hure! Du kannst es doch gar nicht erwarten, mich brennen zu lassen! Ich seh doch, wie geil es dich macht, über Leben und Tod entscheiden zu können!“

 

   Die Wut, die in Anju aufflammte, war spürbar und in ihren Augen sichtbar und Link wartete nur darauf, dass sich der Scheiterhaufen alleinig durch diese Wut schon entzündete. Dennoch verlor Anju nichts von ihrer äußerlichen Kälte. Allen anderen hatte es die Sprache verschlagen. Die Königin von Ikana wie eine alte Bekannte anzusprechen war schon eine Untat für sich, wenn man nicht zum Bekanntenkreis gehörte. Doch sie öffentlich eine Hure zu nennen fügte Hochverrat zur langen Liste seiner Verbrechen hinzu. Es schien ihn jedoch nicht zu kümmern.

   Ein leises Raunen und Staunen ging durch die stille Menge, die sich plötzlich zu teilen begann.

   Keine Krone, kein Diadem. Nur eine wallende Haarpracht. Ein langer violetter Umhang, wie die Haare im Takt seiner schnellen, zornerfüllten Schritte wehend. So zornerfüllt wie diese war auch sein Gesicht. Unter dem Umhang trug er eines von Igos’ alten Gewändern, einen breiten Gürtel mit dem Emblem des Königshauses als goldene Schnalle um die Taille. An diesem hing Igos’ Schwert, das er bereits beim Kampf gegen die Schattenbiester benutzt hatte, in einer breiten, stark verzierten Scheide. Das tiefe Schwarz um seine tatsächlich glühenden Augen ließ diese bedrohlich und mächtig wirken.

   Niemand hatte nach Bekanntwerden seiner Absage mehr damit gerechnet, dass er dennoch auftauchen würde. Doch Kafei hatte den Kampf gegen sich selbst verloren. Er preschte ohne einen Blick zur Seite zwischen Link und Cremia durch, die ebenfalls Platz gemacht hatten. Ohne sich festzuhalten oder Anlauf zu nehmen, sprang er auf das vier Ellen hohe Podium und anschließend mit solcher Wucht auf den Scheiterhaufen, dass der Wind den sein Umhang machte, Anju’s Fackel ausblies. In diesem Moment war auch schon Dotour auf der Bühne und zog seine perplexe Schwiegertochter nach unten. Sie selbst war zu starr vor Schock, um sich eigenständig bewegen zu können.

   Kafei griff nach dem Schwert seines Urgroßonkels. So wie er es aus der Scheide zog, durchtrennte der harte, scharfe blaue Stahl die Kette, die den Mann an den Pfosten band. Mit der linken Hand stieß er ihn auf die Holzplanken hinab, wobei sich dieser zweimal überschlug und entgeistert zu ihm aufstarrend zurückblickte. Er steckte das Schwert zurück und noch im Sprung nach unten zog er einen seiner Dolche aus dem Stiefel. Kaum; beinahe lautlos; gelandet, packte er den Mann am Kragen und schleifte ihn zum steilen Scheiterhaufen zurück, wo er ihn an den Haaren ans Stroh drückte und ihm den Dolch an die Kehle hielt. In einem flüchtigen Moment hatte Link einen weiteren Blick auf Kafei’s Augen erhaschen können: sie glimmten nun in einem strahlenden Türkisgrün, beinahe so grell wie Leuchtstein in der Dunkelheit.

 

   „Dass du gerade die Königin von Ikana eine Hure genannt hast, wollen wir mal vergessen.“, zischte er so, dass ihn alles und jeder gleich laut hören konnte wie Die Bestie vor ihm – eine große Macht von der Sirileij Link erzählt hatte, mit dem klangvollen Namen `Drachenzunge´. „Da bist du also wieder. Erinnerst du dich noch an mich?“

   „Und ob. Du hast geheult wie ein Mädchen. Nicht einmal sie hat so geheult.“

   „Weil sie zum Glück tot war, bevor ihr die Schmerzen bewusst werden konnten,“, fauchte Kafei. „Und was ist mit den anderen? Wie viele waren es? Sag schon. Leute wie du führen doch gerne ihre ganz persönliche Liste. Also? Wie viele?“

   „Das willst du nicht wissen.“, grinste Hethalor nur schadenfroh.

   „Auch gut. Ist vielleicht besser so. Für alle.“

   „Ein schlechter König bist du. Verdreckst dir den Mund mit fremden Sprachen.“

   „Sogesehen sind wir ja gleichauf, nicht? Zwei dreckige alte Bekannte, die noch eine klitzekleine Rechnung offen haben. Hast du ehrlich gedacht, du könntest hier den ehrenvollen, großen Abgang machen? Die kurze Qual ertragen? Womöglich noch genießen?“, keiner der beiden zuckte auch nur mit einer Wimper als Kafei den Dolch langsam über die linke Wange des Mannes zog, gefolgt von einem stillen Rinnsal Blut. „Ich habe sie gehört. Sie hat Recht. Kein Mann ist zu so etwas fähig. Du bist kein Mann. Also werde ich auch nicht zulassen, dass du diese Welt als Mann verlässt.“

 

   Er trat zurück, warf den Dolch nach unten, sodass dieser im Holz stecken blieb und hob den linken Arm. Die Ketten gehorchten ihm und banden den durch einen Zauber wehrlos gemachten Mann an eine nicht existierende Wand, dem Publikum zugerichtet. Mit einem Griff riss Kafei ihm das Hemd herunter. Zum Vorschein kamen längliche Hautrötungen, über seinen ganzen Oberkörper verteilt. Unter manchen klebte verkrustetes Blut.

 

   „Ich lasse nicht zu, dass du einen würdevollen Tod stirbst, ganz gleich, was ich in einem Moment der Großherzigkeit meiner Frau versprochen habe. Wenn du denkst, du wurdest während der letzten Tage gefoltert, wirst du dich in den nächsten Sekunden an die Peitsche zurück ausgeliefert sehnen.“

 

   Wieder zog Kafei das alte Schwert und Dotour kam zurück hinauf gehastet, wurde aber durch ein durchsichtiges, leicht rosa schimmerndes Schutzschild aufgehalten. Der Suro, der den Aufbau noch nicht verlassen hatte, hatte den Arm erhoben, in Dotour’s Richtung. Diese Geste gab Link zu verstehen, dass es Sirileij war. Unmissverständlich schüttelte sie den Kopf.

   Als Kafei von unten aufzog und den auf seine Entfernung ersten, feinen Schnitt mit der abgeschrägten, breiten Spitze über den Oberkörper des Mannes zog, konnte Link die ersten Kinder weinen hören. Viele begannen, den Platz zu verlassen. Mit jedem Schnitt floss ein wenig mehr Blut und mit jedem vergossenen Tropfen und jedem Schmerzensschrei Hethalors, verließen mehr Bürger die Schaustätte. Im Augenwinkel sah Link wie Ydin leicht zusammenzuckte, jedes Mal wenn Kafei einen Schnitt setzte, und dennoch nicht den Blick löste. Dotour sackte auf seine Knie und Romani rannte davon, so gut es ihr möglich war, gefolgt von ihrer Schwester und ihrem Freund. Etwas weiter entfernt entdeckte Link endlich Aril, aber auch erst als sie sich zum Gehen wandte. Ihre Freundin Doria blieb noch ein paar Augenblicke, bis sie Aril’s Fehlen bemerkte und ihr nachlief.

   Indessen, nach einer Zeit, die sich wie endlose Tage angefühlt hatte, steckte Kafei das blutige Schwert zurück, griff nach seinem Dolch und riss auch noch die Hose des Mannes weg. Zu diesem Zeitpunkt hatten die meisten die Flucht ergriffen. Die letzten taten es jetzt. Link kam alles wie in Zeitlupe vor.

 

   „Und das, du Ekel, ist für Ilethi.“, knurrte Kafei und packte Hethalor’s Genitalien.

 

   Er sah von seiner Position aus nur annähernd, wie Kafei den Dolch durchzog. Mit einem letzten lauten Schrei, riss Hethalor den Kopf in den Nacken. Ydin ließ fassungslos den Korb fallen. Frano war nicht minder geschockt. Auch Sirileij wich mit weit aufgerissenen Augen zurück. Ihr Schutzschild verschwand als sie sich umdrehte und fort teleportierte. Anju stürzte davon, ins Schloss zurück, sich die Hand vor den Mund halten. Dotour eilte ihr hinterher, so gut ihn seine Beine im Moment tragen konnten. Kafei klatschte das blutige Fleisch auf den Boden, wischte den Dolch an einem der Gewandfetzen ab und verschwand noch als er sich abwandte, die Augen wieder rot wie der ausblutende Körper, den er zurückließ. Mit laut klirrenden Ketten sackte Hethalor in sein eigenes Blut, keuchend, die Augen noch weiter aufgerissen als Sirileij zuvor, den Blick ins Nichts gerichtet, sich vor Schmerzen und Kälte zusammenkauernd. Der erste Tropfen seiner Lebensessenz fiel in den unberührten Schnee direkt vor dem Podium.

   Ein leichter Wind wehte durch Link’s freiliegende Haare, bauschte seinen Umhang auf. Seine Mütze bewegte sich ebenfalls im Wind. Die Augen nur ausdruckslos nach oben gerichtet, bemerkte er vage, wie Frano und Ydin schlussendlich den Platz verließen. Einzig der Korb blieb zurück.

   Eine fast friedliche Winterstille legte sich über das Residenzdorf von Ikana, lediglich unterbrochen vom Säuseln des Windes, dem Tropfen des Blutes und dem Keuchen des Mannes. Er hustete. Dann wieder Stille. Für eine Weile. Eine traurige Einsamkeit. Nicht einmal als der Mond gedroht hatte, auf die Ebenen vor dem Canyon zu stürzen, war es zwischen diesen Mauern und Felsen so still, so geisterhaft gewesen.

 

   „W-wer bist du?“, hauchte er endlich zu Link.

   „Der Beweis, dass es für alles und jeden ein positives, beziehungsweise negatives Gegenstück gibt.“, antwortete er gut überlegt. „Ich dachte, ich hätte mein negatives Ich gefunden. Wie sehr ich mich getäuscht habe. Es liegt hier vor mir.“, er setzte kurz ab. „Kafei hat Recht. Die Twili sollen wissen, womit sie es zu tun haben, wenn du ihr Reich betrittst. Ich kenne viele, die grauenhafte Dinge getan haben und eine zweite Chance verdienen. Du gehörst nicht zu den Leuten, die meine Stimme bekommen würden. Und wie es scheint, stehen die Göttinnen doch noch auf der Seite eines ihrer Sprachrohre. Mach es im nächsten Leben besser. Du hast einiges an Zeit vernichtet. Am allerwenigsten wohl deine eigene. Denn glaub mir, ich kenne den Wert der Zeit. Wohl besser als sonst jemand.“, auch er wandte sich schließlich zum Gehen.

   „B-bitte – “

   „Was.“, entgegnete Link, den Kopf leicht zurück drehend.

   „Geh nicht. Es – es tut mir leid.“

   „Deine Erkenntnis kommt zu spät. Und ich kann sie dir nicht abnehmen.“

 

   Trotz allem drehte Link sich wieder zu ihm um, sah ihn einen Moment lang an und erklomm dann das Podium. Mit einem letzten Blick auf den Mann, zog er seinen schwarzen Umhang aus und breitete ihn über die zusammengekauerte Gestalt. Ohne ein weiteres Wort, sprang er wieder hinab, nahm Ydin’s leeren Korb und ging.

 

   „Danke.“, hauchte ihm der Mann hinterher.

 

   Zwar blieb Link ein weiteres Mal stehen, aber nur um die magische Flöte, welche er von Kafei bekommen hatte, hervor zu holen und das Lied der Schwingen anzustimmen. Mit der letzten Feder die auf den zerstampften Schnee niederglitt, schloss Hethalor seine Augen. Zum letzten Mal in diesem Leben.

 

 

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